
16 Schülerinnen und Schüler der Beruflichen Schule B24 in Eidelstedt folgten dem Schicksal des Mädchens Leni Timm aus Eidelstedt. Es wurde Opfer des „Euthanasie“-Programms der Nazis. Die Schüler erstellten eine Biografie und setzten sich für die Verlegung eines Stolpersteines ein

Ab August 1939 begannen die Nationalsozialisten in ihrem sogenannten „Euthanasie“-Programm mit dem systematischen Massenmord an tausenden Kindern. Das Programm befahl die Vernichtung psychisch auffälliger, kranker und behinderter Kinder. Ab Oktober wurde der Tötungsbefehl mit der Aktion T4 auch auf Erwachsene ausgeweitet. Die meisten Opfer starben durch Medikamente oder quälende medizinische Tests, durch Nichtbehandlung oder Nahrungsentzug. Meist wurden sie dazu in bestimmte Krankenanstalten verlegt, wo sie umgebracht wurden.
Auch das Mädchen Leni Timm aus Eidelstedt wurde Opfer der NS-Euthanasie. Als uneheliches Kind am 11. Februar 1932 in Hamburg Altona geboren, wurde es statt von der eigenen Mutter zunächst von der Ehefrau des leiblichen Vaters betreut. Im Alter von zwei Jahren kam es zu Pflegeeltern, die in der Nachbarschaft, im Wiesengrund 20 lebten. „Dort war es sehr glücklich und auch die Pflegeeltern Marie und Karl Fock hatten Leni sehr lieb“, sagt Ayse Gövec (18). Die Schülerin der Beruflichen Schule B24 in Eidelstedt gehört zu den 16 Schülerinnen und Schülern, die sich intensiv mit dem Schicksal von Leni Timm auseinandergesetzt haben.

Die Schülerinnen und Schüler sind Teilnehmer der Maßnahme Betriebliche Berufsbildung (BBB) an der Berufsschule. Sie richtet sich an Menschen mit Einschränkungen, die einen Anspruch auf einen Platz in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen haben und unterstützt sie dabei, eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Neben der Reflexion zu betrieblichen Erfahrungen im Praktikum und der Unterstützung beim Schreiben von Bewerbungen stehen auch gesellschaftliche Themen wie der Nationalsozialismus auf dem Unterrichtsplan.
Bei einem Gang durch den Stadtteil stieß die Gruppe auf den Stolperstein von Lieselotte Brandt. Sie war 1944 mit acht Jahren in der Wiener Anstalt „Am Spiegelgrund“, in der Euthanasiemorde begangen wurden, angeblich an Tuberkulose gestorben. Die Schülerinnen und Schüler waren bestürzt über das Schicksal des Kindes und wollte sich mehr mit dem Thema Euthanasie befassen. Nach einem Kontakt mit der Initiative Stolpersteine Hamburg erfuhren sie von Leni Timm, die laut vorhandener Akten ein ähnliches Schicksal wie Lieselotte Brandt erlitt, deren Geschichte aber noch nicht schriftlich erfasst worden war und für die es noch keinen Stolperstein gab.
Die Schülerinnen und Schüler trugen Fakten über Leni zusammen. Bei ihren Recherchen erfuhren sie, dass Leni, die mit fünf Jahren an Scharlach erkrankte, 1937 auf Empfehlung der Fürsorge in die Alsterdorfer Anstalten verlegt wurde. In ihrer Fürsorgeakte hieß es, dass sie erheblich behindert in der Fortbewegung sei und zudem „schweren Schwachsinn“ zeige. Wegen verschiedener Infekte kam sie immer wieder auf die Krankenstation der Einrichtung. Sie wurde immer apathischer und schwächer. Am 6.September 1943 wurde Leni nach Wien verlegt in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt, kurz „Anstalt Am Steinhof“, an der ebenfalls Euthanasiemorde begangen wurden.

Bei ihrer Einlieferung wog die elfjährige Leni nur noch 24 Kilogramm, statt die für ihr Alter durchschnittlichen 43 Kilogramm. Weil sie am 6.Dezember 1944 verstärkt hüstelte, wurde sie wegen Tuberkulose-Verdachts in den Pavillon 19 verlegt, in dem die Patientinnen oft sehr schnell verstarben. Auch Leni Timm starb nur zwölf Tage später am 12.Dezember 1944 mit 12 Jahren, angeblich an Lungentuberkulose. „Ihre Geschichte hat mich sehr berührt, sie ist so jung gestorben und hatte gar kein richtiges Leben“, sagt Ayse. „Sie hatte wahrscheinlich eine Entwicklungsverzögerung, aber in ihrer Akte stand als Diagnose „Imbezillität “, also Schwachsinn, das fand ich erschütternd“, sagt Hiranur Erdal (19).
Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten mit Unterstützung ihrer Lehrerinnen und Assistenten an einem Text über die Biografie von Leni für die Internetseite www.stolpersteine-hamburg.de und sammelten Geld für die Verlegung des Stolpersteins am Wiesengrund 20. „Das Projekt hat die Beteiligten gepackt, sie haben gemerkt, dass sie selbst aktiv werden können und selbst einige, die nicht mehr in der Maßnahme waren, weil sie eine Arbeit gefunden hatten, blieben dabei“, sagt Lehrerin Mareike Timm.
„Das Projekt hat die Beteiligten gepackt, sie haben gemerkt, dass sie selbst aktiv werden können und selbst einige, die nicht mehr in der Maßnahme waren, weil sie eine Arbeit gefunden hatten, blieben dabei“
Mareike Timm, Lehrerin an der Beruflichen Schule B24 in Eidelstedt
Dank der Neugier, Empathie und Beharrlichkeit der Schüler konnte am 15.Juni 2024 schließlich ein Stolperstein für Leni Timm am Wiesenacker 20 in Eidelstedt verlegt werden. Rund 130 interessierte Menschen kamen zu dieser Veranstaltung. Bei dem Vortrag des Lebenslaufes von Leni Timm beteiligten sich auch die beiden Schüler Benjamin Kuhlenschmidt und Marten Lenz. „Sonst rede ich nicht so gern vor so vielen Leuten, aber das war wichtig, die Leute sollen darauf aufmerksam werden, was passiert ist“, sagt Marten. Für ihn war vieles in dem Projekt neu, zum Beispiel auch, dass es in Hamburg gut 7000 Stolpersteine gibt. „Ich wusste zu Anfang nicht, dass es so viele sind“, sagt er. An die Schicksale der Menschen zu erinnern, findet auch Hiranur wichtig, „damit die Leute das nicht vergessen und damit so etwas auch in Zukunft nicht wieder passiert“, sagt sie.
(Alle Fotos @Jonas Walzberg)
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Menschen mit Behinderung im Holocaust: Erinnern an Leni Timm